Briefe, die keine sind: “Socio-rhetorical criticism” als Hilfsmittel

Indem ich dieses Thema aufgreife, nehme ich euch mit in meine eigene Lernerfahrung. „Socio-rhetorical criticism“ ist eine relativ neue Vorgehensweise in der Bibelwissenschaft, und ich habe mir Zeit genommen, sie etwas besser kennen zu lernen. Eine gute und allgemein akzeptierte deutsche Übersetzung für diesen Fachausdruck habe ich allerdings nicht gefunden. Eine mögliche Übersetzung ist sozial-rhetorische Methode; das ist aber meine eigene Wortwahl, nicht ein etablierter Fachbegriff. Genau genommen handelt es sich um eine Form der Bibelkritik, wie es im Deutschen zum Beispiel auch Textkritik gibt. Da das Wort Kritik im alltäglichen Gebrauch eher negativ geladen und somit missverständlich ist, bevorzuge ich das neutralere Wort Methode. Klar ist: Wir haben es hier mit einer Analyse des Textes aus einer ganz bestimmten Perspektive (sozial und rhetorisch) zu tun.

Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast

Sozial. Es ist schon lange üblich, einen Text historisch zu betrachten, als Teil seines historischen Kontextes. Diese historische Perspektive überschneidet sich erheblich mit der sozialen. Allerdings interessiert sich die sozialwissenschaftliche Perspektive nicht in erster Linie für große Ereignisse und wichtige Persönlichkeiten, sondern vor allem für das normale Leben auf allen Gesellschaftsebenen.

Rhetorisch. Die Rhetorik war in der Antike eine angesehene Kunst, die mit wissenschaftlicher Präzision untersucht und unterrichtet wurde. Es gab klare Regeln und Richtlinien für die rhetorische Praxis (mehr dazu später). Es war Teil einer guten Ausbildung, Rhetorik theoretisch wie praktisch zu erlernen. Besonders in den letzten 20 Jahren ist uns zunehmend bewusst geworden, wie viele Elemente und Techniken der antiken Rhetorik sich im Neuen Testament wiederfinden. Rhetorik ist die Kunst oder die Fähigkeit zu überzeugen. Das war mit Sicherheit auch das Ziel der Verfasser des Neuen Testamentes – daher ist es nicht überraschend, dass sie ohne zu zögern die rhetorischen Mittel einsetzten, die ihnen bekannt waren.

Da die Rhetorik ein so wesentlicher Teil der damaligen Gesellschaft war, macht es Sinn, die beiden Begriffe zu kombinieren: sozial-rhetorisch.

Mündlich. Zusätzlich zu diesen Begriffen gibt es dann noch den mündlichen Aspekt. Zwischen 80 und 90 % der damaligen Bevölkerung konnten nicht lesen (Witherington 2009:7); sie brauchten jemanden, der ihnen vorlas. Texte waren meistens sowieso nicht zum privaten Lesen gedacht, sondern um innerhalb einer Gruppe oder in der Öffentlichkeit laut vorgelesen zu werden.

Wenn man nicht selber anwesend sein konnte, um seine Gedanken oder seine Meinung mitzuteilen, dann war ein schriftlicher Text die beste Alternative: „Sie sind meistens Ersatz für mündliche Kommunikation“ (ibid.: 4; siehe auch Witherington 2012 und Offb. 1:1-3). Sie stellen „mündliche Texte“ dar, und „das ist kein Widerspruch“ (Witherington 2012).

Dies trifft besonders auf die Paulusbriefe zu; diese mussten den Apostel ersetzen, wenn er nicht direkt zu seinen Zuhörern sprechen konnte. Briefe in der Länge, wie Paulus sie schrieb, waren in der damaligen Zeit eine Seltenheit. Sie haben mehr gemeinsam mit der Praxis des öffentlichen Redens und der Rhetorik als mit der Art und Weise, wie im ersten Jahrhundert n. Chr. Briefe geschrieben wurden. Wie Witherington (2009:10) betont, trifft dies auf den 1. Johannesbrief und auf den Hebräerbrief noch stärker zu. Bei ihnen handelt es sich gar nicht um Briefe, sondern um Predigten oder Vorträge. Die bekannteste Parallele neben der Bibel sind die literarischen Briefe Ciceros, die im ersten Jahrhundert v. Chr. geschrieben wurden. Zu seiner Zeit war die Rhetorik schon eine alte Kunst. Ciceros Briefe scheinen aber eine Neuheit gewesen zu sein; wie die Briefe der Bibel unterscheiden sie sich stark von der üblichen Briefform. Daher ist „Brief“ hier die falsche Kategorie; wir haben es mit schriftlichen Vorträgen zu tun.

Zugegebenermaßen gibt es am Anfang und am Schluss der meisten Briefe in der Bibel die Elemente, die für damalige Briefe üblich waren (Verfasser, Empfänger, Segen usw.). Was aber zwischen dieser Einführung und dem Schluss steht, d.h. im eigentlichen Hauptteil des Briefes, hat wenig mit der damaligen Briefkultur und alles mit der antiken Rhetorik zu tun. Die einzige Ausnahme bilden einige wenige „echte“ Briefe, wie 2. und 3. Johannes.

In unserer Zeit hätte Paulus vielleicht eine MP3-Aufnahme oder ein YouTube Video gemacht. Oder er hätte eine Plattform für eine Webkonferenz benutzt. Zu seiner Zeit musste er sich aber mit Briefen begnügen. Dabei war es von Vorteil, wenn er den Brief durch einen Vertrauten überbringen lassen konnte. In diesem Fall war der Überbringer wohl auch derjenige, der den Brief mündlich vortrug. Damit hatte Paulus die Gelegenheit, dieser Person den Inhalt näher zu erklären und ihr Anweisungen für die Präsentation zu geben. Eine solche Erläuterung oder Vorbereitung war damals fast zwingend notwendig:

Ein normaler Brief in griechischer Sprache hatte keine Trennungen zwischen Wörtern, Sätzen, Absätzen usw.; kaum Satzzeichen; alles in Großbuchstaben. Stell dir zum Beispiel vor, einen Text, der wie folgt anfängt, auseinander dividieren zu müssen:

PAULUSEINAPOSTELNICHTVONMENSCHENAUCHNICHTDURCHEINENMENSCHENSONDER
NDURCHJESUSCHRISTUSUNDGOTTDENVATERDERIHNAUFERWECKTHATVONDENTOTEN

Eine solche Anhäufung von Buchstaben zu entziffern geht nur, indem man sich sorgfältig vortastet, und dabei laut zu lesen versucht. (Ibid.: 8)

Die Briefe, die wir im NT vorfinden, sind zum größten Teil wesentlich länger als weltliche Briefe jener Zeit. Sie sind nicht in erster Linie Briefe, obwohl sie zum Teil wie Briefe mit Anrede und Schlussfloskel aufgebaut sind. Sie sind Vorträge, Predigten und rhetorische Reden unterschiedlicher Art, die ihre Verfasser nicht persönlich an eine ganz bestimmte Zuhörerschaft überbringen konnten, weshalb sie einen Ersatz schickten, um sie zu verkünden. Solche Dokumente wurden nicht einfach irgendjemandem mitgegeben. Soweit wir das sagen können, erwartete Paulus von seinen Mitarbeitern, wie zum Beispiel Timotheus, Titus oder Phöbe, dass sie hingehen und den Inhalt des Dokuments mündlich und rhetorisch effektiv überbringen würden. Das war wohl auch deswegen eine Notwendigkeit, weil das Dokument ohne Wortteilung oder Satzzeichen auskam; somit konnte nur jemand, der geübt war, solche nahtlose Prosa in scriptum continuum zu lesen – ja, jemand der den Inhalt des Dokuments schon kannte – die richtigen Stellen betonen und so die Botschaft effektiv kommunizieren. (Ibid.:9)

Paulus der Rhetoriker

Obwohl Paulus in 1. Korinther 2,1-5 bestreitet, in Korinth Rhetorik eingesetzt zu haben, und obwohl die Korinther ihm erbärmliche rhetorische Fähigkeiten vorwerfen, scheint Paulus in Wirklichkeit ein hervorragender Rhetoriker gewesen zu sein. Er verwendet in seinen Briefen häufig rhetorische Kunstgriffe, vor allem im Römerbrief und – ironischerweise – in den Korintherbriefen. Wahrscheinlich hat Paulus während seines Aufenthalts in Korinth bewusst weniger Rhetorik verwendet, um sich von den vielen herumreisenden (und bisweilen zweifelhaften) Lehrern der Philosophie und der Rhetorik zu unterscheiden.

In seinen Schriften entpuppt sich Paulus aber als rhetorischer Meister. Er wurde dazu übrigens genau am richtigen Ort geboren. Der griechische Geograph Strabo (ca. 63 v.Chr. bis 24 n.Chr.) berichtet, dass die Einwohner von Tarsus Wissen und Bildung überaus schätzten und in dieser Hinsicht Athen und Alexandrien übertrafen; mehrere namhafte Stoiker, Vertreter der einflussreichsten philosophischen Bewegung jener Zeit, kamen aus Tarsus (Geography 14.5.13-14).

Im Oktober letzten Jahres habe ich über Römer 7 und das Rollenspiel des Paulus geschrieben: Obwohl er die ich-Form verwendet, schreibt er nicht von seiner persönlichen Erfahrung, sondern von der der Israeliten, als sie am Berg Sinai das Gesetz erhielten (diesen Text gibt es hier). Das kann man leicht übersehen, wenn man den Text still für sich liest. Ein guter Redner (für den Römerbrief war es eine Frau, Phöbe) hat aber die Möglichkeit, deutlich zu machen, dass er oder sie jetzt in eine Rolle einsteigt, und nicht als der Verfasser, sondern als eine andere Person redet. Da ein solcher Rollenwechsel in der damaligen Rhetorik nicht ungewöhnlich war, hätten die Zuhörer wahrscheinlich verstanden, was stattfand.

Etwas Ähnliches trifft zu auf die vielen rhetorischen Fragen, die Paulus im Römerbrief verwendet; davon gibt es über das ganze Buch verteilt etwa 75. Mehrmals wendet sich Paulus in diesem Brief an einen hypothetischen Gegner (Röm. 2,1; 6,1; 9,18-21), um so mögliche Gegenargumente zu widerlegen. Das alles war in der damaligen Rhetorik gebräuchlich; der Fachbegriff für diese Tricks ist diatribe. Ein guter Redner (oder Vorleser) konnte sie umso effektiver einsetzen.

Auch Ausdrücke wie „ich lasse euch aber wissen“ oder „ich ermahne euch nun“ wurden in der Rhetorik öfter als Einführung verwendet, in Briefen aber nicht (so Witherington 2012). Das alles macht klar, dass die Rhetorik und nicht die Briefkultur der bessere Schlüssel zum Verständnis der neutestamentlichen Briefe ist.

Die klassische Rhetorik

Bis jetzt haben wir von rhetorischen Fragen, diatribe, Personifizierung (Rollenspiel) und anderen Mikroelementen der antiken Rhetorik gesprochen. Ihr Einfluss zeigt sich aber auch in der Struktur von Texten, also auf der Makroebene. Im Folgenden gibt es einen kurzen Überblick über die Hauptpunkte der damaligen Theorie der Rhetorik. Darin wurden drei Gattungen unterschieden:

  • Gerichtsrede. Diese bezieht sich auf die Vergangenheit. Ihr Ziel ist die Urteilsfindung. Sie wurde deswegen vor allem im Gerichtssaal eingesetzt, und ist daher für das Bibelstudium weniger wichtig.
  • Abwägende oder beratende Rede (auch Parlamentsrede). Hier geht es um die Zukunft. Ihr Ziel ist einerBeurteilung oder Entscheidung . Anders gesagt, ihr Ziel ist eine bestimmte Handlungsweise. Das deckt sich mit dem Ziel vieler Briefe im Neuen Testament.
  • Lobrede (oder auch Tadel). Sie betrifft die Gegenwart, und ihr Inhalt ist Lob oder Tadel. Daher eignet sich diese Gattung gut für Beerdigungen, Geburtstage, Jahrestage, Feiern und sonstige offizielle Anlässe. Beispiele im Neuen Testament sind u.a. Epheser, 1. Korinther 13, 1. Thessalonicher und Hebräer 11.

Damit man überzeugen kann, so die Theorie, braucht es drei Elemente:

  • Logos: der Appell an die Logik, indem man Argumente, Beispiele usw. verwendet.
  • Pathos: der Appell an die Gefühle. Besonders gegen Ende, wenn die Argumentation zusammengefasst wird, wurde es als wichtig erachtet, die Emotionen anzusprechen und zu erregen.
  • Ethos: eine Kombination aus Charakter, moralischer Autorität und Kompetenz, wie sie von den Zuhörern wahrgenommen wird. Deshalb war es wichtig, gleich am Anfang der Rede als Redner seine Autorität zu belegen und ein gutes Verhältnis zum Publikum zu begründen, was Paulus in jedem seiner Briefe tut.

Es war üblich, in der Struktur einer Rede sechs Teile oder Komponenten zu unterscheiden. Sie sind vor allem unter ihren lateinischen Namen bekannt, die ich hier auch verwenden werde. Alle sechs lassen sich in unterschiedlichen Texten im Neuen Testament wiederfinden.

  • Exordium: die Einleitung. In diesem Teil ist es wichtig, ein gutes Verhältnis zu den Zuhörern aufzubauen und die eigene Autorität zu begründen. Hier werden die Hauptthemen erwähnt oder mindestens auf solche hingewiesen. Das alles ist natürlich genau das, was Paulus in jedem seiner Briefe am Anfang macht. Für ein Beispiel, siehe 1. Korinther 1,5-9 oder Römer 1,1-7.
  • Narratio: die Fakten, oft in Form einer kurzen Erzählung. Siehe zum Beispiel 1. Korinther 1,11-17 oder Römer 1,8-15.
  • Propositio: die eigentliche These. Römer 1,16f, direkt nach der Narratio in den Versen 8-15, bildet ein hervorragendes Beispiel, wie auch 1. Korinther 1,10 (Luther 1984): „Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle mit einer Stimme redet und lasst keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest in einem Sinn und in einer Meinung.“
  • Probatio (auch confirmatio): Belege und Argumente. Hier spielt der Appell an die Logik eine Hauptrolle. Im Römerbrief folgt dieser Teil direkt nach der These.
  • Refutatio: Gegenargumente. Der Redner zeigt Alternativen an und versucht sie zu widerlegen. Dieser Teil kann fehlen.
  • Peroratio: die Schlussfolgerung. Dazu gehören eine Zusammenfassung der Argumentation und ein Appell an die Emotionen. Im Römerbrief findet sich dieser Teil vor allem in Kapitel 14 und 15.

Ich befasse mich hier hauptsächlich mit Paulus. Ich möchte aber doch erwähnen, dass das rhetorisch absolut perfekteste Beispiel im Neuen Testament der Hebräerbrief ist. Er zeigt viele Merkmale dieser Kunst. So wird in diesem Brief die Technik der synkrisis höchst effektiv eingesetzt: Die Hauptaussage wird untermauert, indem etwas Punkt für Punkt mit etwas anderem verglichen wird. Vielleicht steckt darin noch ein Thema für eine weitere Ausgabe dieses Trainingbriefes!

Die Beschäftigung mit der Rhetorik der Antike ist somit nicht nur historisch interessant. Sie kann einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis des Neuen Testaments leisten. Ein letztes Beispiel:

Wir hätten es uns ersparen können, uns mit all jenen langen und düsteren Argumenten auseinanderzusetzen, dass diese zwei Briefe [gemeint sind Epheser und Kolosser] unmöglich von Paulus sein können, weil sie so anders sind, eine andere Satzstruktur aufweisen, ein anderes Vokabular verwenden und so weiter, wenn jemand der Tatsache Beachtung geschenkt hätte, dass diese Briefe im Stil der asiatischen Rhetorik, der wortreichsten und am meisten hyperbolischen Form der Rhetorik im ersten Jahrhundert geschrieben wurden. Dies war überaus angebracht, da Paulus an genau die Region schrieb, wo ein solcher rhetorischer Stil sehr beliebt war und wo er auch seinen Ursprung hatte – die Provinz Asien. Als geschickter Rhetoriker war Paulus in der Lage, seinen Stil an seine Zielgruppe anzupassen, und das macht er in diesen Dokumenten. Sätze, die 26 Zeilen zählen und viele Adjektive und sogar Überflüssiges, sind in der asiatischen Rhetorik kein Problem, wie jeder weiß, der die wortreiche Nimrud dag Stele, ein Lob dieses Herrschers, gelesen hat. Wie Luke Johnson in mehreren seiner Kommentare sagte, es war eine übliche rhetorische Taktik, den Stil zu wechseln, um unterschiedliche Zielgruppen überzeugen zu können. Es handelt sich dabei nicht um unterschiedliche Verfasser. Es handelt sich um rhetorische Flexibilität. (Witherington 2012)

Literaturangaben

Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1984)

Witherington, B., III, New Testament Rhetoric: An Introductory Guide to the Art of Persuasion in and of the New Testament (Eugene, OR: Wipf & Stock, 2009a)

Ibid., What’s in the Word: Rethinking the Socio-Rhetorical Character of the New Testament (Waco, TX: Baylor University Press, 2009b)

Ibid. “The SBL in Chicago- A Potpourri of Things– Part One” http://www.patheos.com/blogs/bibleandculture/2012/12/19/the-sbl-in-chicago-a-potpourri-of-things-part-one/ (19 Dec. 2012; retrieved 22 Dec. 2014)

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