Im April dieses Jahres schrieb ich in Create a Learning Site über das Thema „Socio-Rhetorical Criticism“. Die erstaunliche Schlussfolgerung war, dass die meisten Briefe im Neuen Testament gar keine Briefe im eigentlichen Sinn sind. Vielmehr handelt es sich um Vorträge verschiedener Art. Diese mussten schriftlich erfasst und versandt werden, weil ihr Verfasser seine Zuhörer nicht persönlich ansprechen konnte. Es handelt sich aber trotzdem um Vorträge, die den Empfängern mündlich vorgetragen werden sollten, oft vom Überbringer. Sie sind nach den Regeln für öffentliche Reden verfasst, nicht als Briefe. Das Schreiben von längeren Briefen, über kurze und direkte Mitteilungen hinaus, war ohnehin relativ neu und längst nicht so weit entwickelt wie die klassische Kunst des Redens. Wenn wir Theorie und Praxis der Rhetorik in der Antike ein wenig kennen, eröffnet sich eine völlig neue Perspektive auf diese Briefe.
Die April-Ausgabe von Create a Learning Site basierte ursprünglich auf einen Vortrag, den ich während der europäischen SBS- und BCC-Konferenz im März dieses Jahres in der Schweiz gehalten habe. In der anschließenden Diskussion stellte mir jemand eine geniale Frage: Wie weit sind die Gesetze der Rhetorik in den Evangelien erkennbar? Finden wir dort etwas Ähnliches?
Diesen Brief gibt es in Englisch auch als Video Podcast
Ich hatte keine Ahnung (normalerweise überlegt man sich in der Vorbereitung, welche Fragen und Probleme die Zuhörer ansprechen könnten; irgendwie habe ich das offensichtlich hier verpasst!). Somit befasse ich mich in dieser Ausgabe ein weiteres Mal mit der Rhetorik in der antiken Welt. Auch diesmal half mir dabei ein Buch von Ben Witherington III: New Testament Rhetoric: An Introductory Guide to the Art of Persuasion in and of the New Testament. Es ist eine wichtige Quelle für das, was folgt.
Findet man klassische Rhetorik in den Evangelien? Die kurze Antwort ist „ja, aber“. Das „aber“ hat mit Gattung oder Literaturart zu tun. Die Evangelien sind nicht Reden, es handelt sich um Erzählungen. Aus diesem Grund finden wir hier nicht das, was Witherington Makro-Rhetorik nennt, d.h. einen Aufbau und eine Gliederung, wie wir sie in vielen Briefen der Bibel, in überlieferten Reden und auch in den Lehrbüchern über Rhetorik der damaligen Zeit antreffen. Diese Struktur fängt mit Exordium (Einleitung) an und endet mit Peroratio (Schlussfolgerung und Appell). Eine solche Struktur fehlt in den Evangelien.
Allerdings versuchen die Evangelien sehr wohl, ihre Leser und Zuhörer vom Charakter und von der Identität Jesu zu überzeugen. Aus diesem Grund finden wir in den Evangelien viele der feineren Werkzeuge und Bausteine (Mikro-Rhetorik) der damaligen Rhetorik.
Das Markusevangelium
Witherington demonstriert diese Mikro-Rhetorik anhand des Markusevangeliums. Nach seiner Meinung ist Markus ein einfacher, wenn auch nicht ungebildeter Mensch. Mit der meisterhaften und kultivierten Rhetorik eines Paulus kann er nicht mithalten. Trotzdem zeigt sich, dass er gelernt hat, die grundlegenden Formen und Instrumente der Rhetorik zu verwenden.
Eine dieser Formen ist die chreia, ein griechisches Wort für eine Kurzgeschichte über eine Person (Anekdote). Wer eine Schulbildung hatte, hatte gelernt, solche Kurzgeschichten, mit eigenen Einsichten oder Kommentar ergänzt, zu schreiben, denn das war eine wichtige Übung auf dem Weg zu höheren rhetorischen Aufgaben. Auch Fabeln (eine Kurzgeschichte mit Tieren statt Menschen als Hauptfiguren) und Gleichnisse lernte ein Schüler schreiben. Beim Gleichnis handelt es sich um einen indirekten Vergleich zwischen zwei Situationen. Ein Gleichnis kann aus einem einzigen Satz bestehen oder auch eine etwas längere Kurzgeschichte sein.
Ein Großteil des Markusevangeliums besteht aus genau solchen Kurzgeschichten. Diese sollten nicht nur kurz, sondern auch einprägsam sein und idealerweise eine klare Pointe oder einen Kernspruch enthalten. Das gelingt dem Evangelisten Markus gut. Sein Evangelium ist rhetorisch einfach und verwendet fast nur grundlegende Bausteine der damaligen Rhetorik, ist aber durchaus effektiv.
Das Lukasevangelium
Das Lukasevangelium ist völlig anders. Lukas zeigt sich als sprachlich und rhetorisch hochbegabt und gebildet. Sprache und Stil sind wesentlich kultivierter als die des Markus. Das musste auch so sein, weil er die zwei Bände seines Werkes (sein Evangelium bildet eine Einheit mit der Apostelgeschichte) dem Theophilus widmet, der aller Wahrscheinlichkeit nach der römischen Oberschicht angehörte.
Dazu kommt, wie Witherington hervorhebt, dass Lukas sich nicht darauf beschränkt, die Geschichte Jesu zu erzählen. In seiner Absichtserklärung in Lukas 1,1-4 gibt Lukas nicht Jesus als Thema an, sondern die „Geschichten, die unter uns geschehen sind“. Anders gesagt, Markus schreibt Biografie (so Witherington), aber Lukas schreibt Geschichte – Heilsgeschichte, um genau zu sein: wie Gott in der Welt handelt, um Menschheit und Schöpfung zu erlösen.
[Nebenbei erwähnt: Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von dieser klaren Unterscheidung zwischen Markus als Biografie und Lukas als Geschichte halten soll. Beide Bücher enthalten viele und ähnliche Kurzgeschichten (chreia) über die Person Jesu. Leider schreibt Witherington in New Testament Rhetoric nichts über das Matthäusevangelium. Dieses Evangelium scheint einen lehrhaften Zweck zu verfolgen, fast wie wenn es sich um eine Katechese oder einen Einführungskurs für neue Gläubige handeln würde. Aber auch wenn die drei Evangelien klare Unterschiede in ihrer Zielsetzung aufzeigen, so sind sie sich in der Form doch recht ähnlich. Deswegen fällt es mir schwer, das Lukasevangelium in eine andere Kategorie einzuordnen als die beiden anderen. Ich gebe aber zu, dass die offensichtliche Verbindung zwischen Lukas und Apostelgeschichte als ein einheitliches Werk die Biografie Jesu im ersten Teil in einen breiteren Kontext stellt und somit ihre heilsgeschichtliche Bedeutung klarer darlegt.]
Wie dem auch sei, laut Witherington ist Lukas Historiker, nicht Biograf. Und die Geschichte, die er schreibt, will mehr als nur zutreffende Informationen über die Vergangenheit weitergeben. Die Geschichtsschreiber der Antike verfolgten oft das Ziel, auf ihre Leser in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, und das ist bei Lukas klar der Fall: Der Leser sollte sich von Jesus überzeugen lassen. Von Geschichtsschreibern wurde zusätzlich erwartet, dass sie den Sinn der Ereignisse erklärten, die sie beschrieben, und auch das macht Lukas. Witherington zeigt, dass Lukas genau so schreibt, wie aus Sicht der Griechen gute und rhetorisch effektive Geschichtsschreibung aussehen sollte.
Die Apostelgeschichte
Diese Auseinandersetzung mit dem Lukasevangelium macht klar, dass wir auch den zweiten Teil dieser Geschichtsschreibung mit in Betracht ziehen sollten. In seinem Buch widmet Witherington der Apostelgeschichte ein ganzes Kapitel. Dort macht er für dieses Bibelbuch, was wir im April für die Paulusbriefe getan haben: Er eröffnet eine völlig neue Perspektive auf das Buch.
Witherington fängt mit einer faszinierenden Statistik an: Mehr als ein Drittel der Apostelgeschichte besteht aus Reden, Konversationen, Auseinandersetzungen und verbal ausgetragenen Gerichtsprozessen. Eine rhetorische Analyse dieser Reden ermöglicht ein wesentlich tieferes Verständnis von dem, was darin geschrieben steht. Lukas stellt seine rhetorischen Fähigkeiten unter anderem dadurch unter Beweis, dass er Unterschiede in Form und Stil erfasst, je nach Redner, Zuhörer und Kontext. Ein Beispiel: In einem jüdischen Kontext lässt die Rede einen alttestamentlichen Stil erkennen, wie zum Beispiel in Lukas 1-2 und Apostelgeschichte 2 – ganz anders als die Rede des Paulus in Athen (Apg. 17).
Die Reden in der Apostelgeschichte sind Zusammenfassungen, weil sie ursprünglich wesentlich länger waren (wie z.B. in Apg. 2,40 angedeutet). Sie zeigen trotzdem klar die rhetorischen Gepflogenheiten und die rhetorische Struktur, wie sie in der antiken Welt allgemein praktiziert wurden. Besonders die Reden des Paulus zeigen sein außergewöhnliches rhetorisches Talent.
Wir finden in der Apostelgeschichte sowohl beratende Rhetorik (oder Entscheidungsrede) wie auch Gerichtsreden. In der beratenden Rhetorik versucht der Redner, seine Zuhörer zu einer bestimmten Handlungsweise zu überreden, zum Beispiel: Bekehrt euch und lasst euch taufen! Die Rhetorik von Gerichtsreden sehen wir dort, wo Petrus, Stephanus und Paulus sich vor einer Obrigkeit oder vor anderen erklären müssen.
Apostelgeschichte 2 zum Beispiel ist eine Gerichtsrede. Anfangs verwendet Petrus die Sprache der Verteidigung (Apg. 2,14-21), weil man die Jünger der Betrunkenheit beschuldigt. Dann wechselt er zur Anklage (Apg. 2,22-36), weil nicht die Jünger, sondern die Ankläger im Fehler sind. In Apostelgeschichte 2,38-40 nimmt die Rede eine beratende Form an, weil Petrus seine Zuhörer zu einer bestimmten Handlungsweise auffordert: Bekehrt euch! Wahrscheinlich waren auch die weiterführenden Worte (in Apg. 2,40 angedeutet) überwiegend beratend.
Witherington analysiert mehrere dieser Reden relativ detailliert, was für unseren Zweck hier zu weit führt. Ich möchte aber für drei der Reden die rhetorische Struktur, die Witherington herausarbeitet, kurz vorstellen. Vielleicht lohnt es sich, eine Bibel zur Hand zu nehmen, um die Strukturanalyse im Text nachzuvollziehen.
Apostelgeschichte 7 ist die längste Rede in diesem Buch. Man kann in der langgezogenen Erzählung der Geschichte Israels leicht den Faden verlieren: Worauf will Stephanus hinaus!? Er benutzt hier die rhetorische Methode insinuatio (Lat.: Eingang auf gekrümmter Bahn): Er versucht zunächst, seine Zuhörer umzustimmen. Kontroverses wird am Anfang ausgelassen oder nur angedeutet. Er gibt lange nur indirekte Hinweise darauf, wohin er seine Zuhörer führt. Erst gegen Ende sagt er klar und direkt, was er eigentlich sagen will: eine harte Zurechtweisung. Diese Strategie macht Sinn, weil seine Zuhörer ihm von Anfang an feindlich gesinnt sind. Er muss davon ausgehen, dass sie seine eigentliche Botschaft gar nicht hören wollen. Deswegen bemüht er sich, zunächst ein gutes und tragfähiges Fundament für die Konfrontation am Schluss zu legen.
Laut Witherington hat die Rede den folgenden Aufbau:
- Exordium (Einleitung) Apg. 7,2a
- Narratio (Tatsachen) Apg. 7,2b-34
- Propositio (These) Apg. 7,35
- Probatio (Beweisführung) Apg. 7,36-50
- Peroratio (Schlussfolgerung und Appell) Apg. 7,51-53
Es gibt zu dieser Rede wesentlich mehr zu sagen. So deutet Stephanus immer wieder darauf hin, dass Gott nicht auf ein bestimmtes Land und noch weniger auf einen Tempel beschränkt ist. Klar ist auf jeden Fall: Die Rede hat eine klare und konventionelle rhetorische Struktur.
In Apostelgeschichte 13 spricht Paulus in einer jüdischen Synagoge:
- Exordium (Einleitung) Apg. 13,16
- Narratio (Erzählung: Tatsachen) Apg. 13,17-25
- Propositio (These) Apg. 13,26 (es ist nicht Apg.13,23, obwohl diese Aussage der Sache nahe kommt; Paulus versucht nicht zu beweisen, dass Gott Jesus als Retter für Israel herbei gebracht hat, sondern dass diese Nachricht an die Zuhörer geht und sie betrifft)
- Probatio (Beweisführung) Apg. 13,27-37
- Peroratio (Schlussfolgerung und Appell) Apg. 13,38-41
Obwohl Apostelgeschichte 26 im Kontext eines Gerichtsverfahrens steht, geht es Paulus hier nicht um seine Verteidigung, sondern darum, diese Herrscher zum Glauben zu führen. Die Rede ist somit beratend.
- Exordium (Einleitung) Apg. 26,2-3
- Narratio (Erzählung: Tatsachen) Apg. 26,4-21
- Propositio (These) Apg. 26,22-23
- Probatio (Beweisführung); dieser Teil fehlt hier; es braucht ihn vielleicht deswegen nicht, weil Agrippa sehr gut wusste, wovon Paulus sprach, und auch, weil sich im weiteren Kontext schon ausreichend Belege und Argumente finden lassen
- Refutatio (Widerlegung von Gegenargumenten) Apg. 26,25-26
- Peroratio (Schlussfolgerung und Appell) Apg. 26,27 und 29
Witherington beschränkt sich in seinem Buch übrigens nicht auf die Analyse der Struktur. In Apostelgeschichte 22,30-23,10 zum Beispiel lesen wir von der ersten formellen Anhörung nach der Verhaftung des Paulus. Paulus erreicht, dass seine Ankläger sich gegenseitig fast zerreißen, indem er ein Bekenntnis zur Auferstehung ablegt. Zu den anwesenden Vertretern des Hohen Rates gehören sowohl Pharisäer wie auch Sadduzäer; die Sadduzäer glaubten nicht an eine Auferstehung, die Pharisäer schon. Wenn Paulus sein Bekenntnis ausruft, löst das einen heftigen Streit aus.
Ist das vielleicht ein bewusster, vorbedachter Trick, mit dem Paulus seine Gegner in zwei Parteien spaltet? Witherington gibt eine andere Erklärung. Paulus zielt nicht auf seine Gegner, sondern auf den römischen Oberst. Seine Gegner haben keine Macht, zu entscheiden, wie es weitergeht, der Oberst aber schon. In dieser Anhörung geht es um die Frage nach der Schuld des Paulus. Ist Paulus Vorkämpfer für einen neuen König, was in den Augen Roms ein ernsthaftes politisches Verbrechen darstellen würde, oder handelt es sich hier um eine jüdische Streiterei über so obskure und verworrene Merkwürdigkeiten wie die Auferstehung der Toten? Letzteres würden die Römer für weitgehend irrelevant halten. Geht es hier somit um Revolution oder um seltsame jüdische Glaubensvorstellungen?
Paulus schafft es, den Rahmen seines Gerichtsverfahrens entscheidend zu prägen, wie der Brief des römischen Obersten an den Statthalter in Cäsarea klarmacht: „Dabei fand ich, dass man ihn wegen Streitfragen über ihr Gesetz verklagte, dass aber keine Anschuldigung, auf welche Todesstrafe oder Gefängnis steht, gegen ihn vorlag“ (Apg. 23,29).
Na und?
Geschickte Rhetorik kann dir also das Leben retten. Was sonst können wir aus dieser Auseinandersetzung mit antiker Rhetorik lernen?
Sowohl die Evangelisten Markus und Lukas wie auch die Redner der Apostelgeschichte dienen uns als Vorbild. Jeder von ihnen verwendet die allgemein gängigen rhetorischen Methoden der damaligen Zeit. Jeder tut dies nach dem eigenen Leistungsstand. Anders gesagt:
Sie zeigen uns ein Modell, wie man Medien vielseitig und flexibel einsetzt, um die Geschichte Jesu zu veröffentlichen und weiterzugeben.
Die folgenden Webseiten vermitteln etwas davon, wie das im 21. Jahrhundert aussehen könnte:
http://www.createinternational.com/the-vision/
http://player.vimeo.com/video/111894073
http://www.endbiblepovertynow.com/
Also: Was machst du auf Facebook und YouTube? Unterschreibst du den Aufruf endbiblepovertynow.com? Hinterlasse einen Kommentar!
Literaturangaben
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1984)
Ben Witherington III, New Testament Rhetoric: An Introductory Guide to the Art of Persuasion in and of the New Testament (Eugene, OR: Cascade Books, 2009)
Bild „Rhetorica“: Pixabay, http://pixabay.com/en/hildesheim-germany-lower-saxony-711009/ (CC0)
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